Rezension/Buchkritik "Der ewige Brunnen", Dirk von Petersdorff (Hrsg.),Verlag C. H. Beck. Umfassende, inspirierende Reise durch die deutsche LyrikRezension/Buchkritik "Der ewige Brunnen", Dirk von Petersdorff (Hrsg.),Verlag C. H. Beck. Umfassende, inspirierende Reise durch die deutsche Lyrik

Seit 1955 gibt es die klassische deutsche Lyriksammlung “Der ewige Brunnen”, aufgelegt von Ludwig Reiners. Darin sind deutschsprachige Gedichte aus zwölf Jahrhunderten versammelt. Bereits 1959 erschien eine durchgearbeitete und erweiterte Ausgabe, danach blieb diese Sammlung knapp fünf Jahrzehnte lang unverändert. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums im Jahr 2005 aktualisierte und erweiterte Albert von Schirnding das Buch, viele Gedichte wurden gestrichen, neue hinzugefügt. Jetzt gibt es wieder eine neue Ausgabe mit insgesamt 1.200 Gedichten: Der Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff, in Jena Professor für Neuere Deutsche Literatur, die deutsche Gedichtsammlung entstaubt, rund 500 Werke ausgetauscht, sogar moderne Songtexte mit aufgenommen, und so die Sammlung bis ins 21. Jahrhundert weitergeführt. Das mag manchen Traditionalisten verwundern, aber vor ein paar Jahren erhielt ja auch der US-amerikanische Liedermacher Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur, ein klares Zeichen, dass auch Songtexte durchaus lyrisch wertvoll sein können. Die Angelsachsen haben das schon etwas früher erkannt, nicht von ungefähr heißen Songtexte auf Englisch „lyrics“.  Neben klassischer Lyrik aus 12. Jahrhunderten sind in diesem Band so auch einige neue Autoren dabei wie Marlene Dietrich, Comedian Harmonists, Sven Regener, Nico Bleutge, Ursula Krechel, Marion Poschmann, Lutz Seiler, Tocotronic, Udo Lindenberg oder Judith Holofernes.

„Der ewige Brunnen“ hat ein ganz eigenes Ordnungsprinzip, die Gedichte sind nicht in chronologischer Reihenfolge aufgeführt, sondern nach Themenbereichen geordnet, wie beispielsweise „Jugend“, „Höhen und Tiefen der Liebe“, „Aus dem Alltag“ oder „Gedanken an den Tod“. So steht dann Udo Lindenberg neben dem Südtiroler Dichter Oswald von Wolkenstein, der im 15. Jahrhundert lebte. So fallen dem Leser auch Parallelen über die Jahrhunderte auf, denn obwohl es völlig andere Wörter und Texte sind, ist die Trauer über eine scheiternde Liebe sowohl bei Erich Kästner als auch bei Judith Holofernes von ähnlicher Sehnsucht durchdrungen. Die Idee, den Gedichtband nach Themen zu sortieren, geht auf Goethe zurück, der dieses Vorhaben aber niemals umsetzte.

Ein schier unerschöpfliches Lesebuch, für jeden Geschmack, für alle Altersstufen ist etwas darin vorhanden. Es finden sich die zum literarischen Kanon zählenden Gedichte ebenso wie unbekanntere, heute fast vergessene Zeilen sowie die modernen Begriffe von Gefühlswelten. Je nach individueller Wahl kann die mit viel Liebe zusammengestellte Lyriksammlung eine umfassende und inspirierende Reise durch die deutschsprachige Lyrik oder sogar ein Lebensbegleiter sein, passend zu den unterschiedlichen Lebensstadien sowie seelischen Tälern und Gipfeln.

Der ewige Brunnen

Dirk von Petersdorff (Hrsg.)

Verlag C. H. Beck

Gebunden, Leinen, mit Lesebändchen, 1.167 Seiten, 28 Euro

ISBN: ‎ 978-3406676420

Weitere Informationen unter https://www.chbeck.de/petersdorff-ewige-brunnen/product/14385664

Von Ingo

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