Buchkritik / Rezension Mein Lübeck, Klaus Ungerer, Mare Verlag. Ein Reiseführer ganz anderer Art mit vielen AnekdotenBuchkritik / Rezension Mein Lübeck, Klaus Ungerer, Mare Verlag. Ein Reiseführer ganz anderer Art mit vielen Anekdoten

„Mein Lübeck“ ist ein Reiseführer ganz anderer Art, mit dem der Leser abtaucht in die Geschichte Lübecks und auch in die persönlichen Geschichten des Autors Klaus Ungerer, der in Lübeck aufgewachsen ist. Dadurch ist dies ein sehr persönliches Buch, denn Ungerer hat Aufzeichnungen des Hobbyhistorikers und Sagensammlers Ernst Deecke gründlich studiert, der ebenso ein (entfernter) Verwandter ist wie seine im 19. Jahrhundert lebende Urur-Großmutter Therese, deren Tagebücher und Briefe er gelesen hat. Der dritte Pol seiner Beschreibungen, die einen ganz anderen Ansatz haben als lediglich wie üblich vor allem Marzipan, das Holstentor, die sieben Kirchtürme und die Nobelpreisträger Thomas Mann, Willy Brandt und Günther Grass herauszustellen, ist seine Grundschullehrerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Kinder zu stolzen Hanseaten zu erziehen.

Ungerer ist aufgewachsen zwischen den alten Backstein-Häusern der Altstadtinsel, die er 2003 verlassen hat, und erzählt von Alt-Lübeck, das es heute nicht mehr gibt, aber von dem die Kapitäne der Ausflugsboote nach Travemünde immer gerne berichten, wenn sie mit den Schiffen an der ehemaligen Slawenfestung vorbeifahren, die weit außerhalb der heutigen Altstadt liegt. Er geht einer alten Liebesgeschichte von Therese nach, von der zu ihrer Zeit ganz Lübeck sprach und zeichnet mit vielen Anekdoten, die auf der Sammlung von Ernst Deecke beruhen, ein sehr persönliches Bild. Er erzählt die Sage vom Möwenstein am Brodtener Ufer von Travemünde, dem Seebad, welches zu Lübeck gehört, obwohl es in Ostholstein liegt. Der riesige Eiszeit-Findling, der immer tiefer im Sand versinkt, soll ein Überrest der Auseinandersetzung zweier Riesen an der Mündung der Trave sein, die sich mit Findlingen bewarfen, so wie Kinder mit Steinen flitschen. Da die Steine in der Luft zusammenstießen und in die Travemündung fielen, entstand der Priwall, der Travemünde gegenüber liegt und zwischen Pötenitzer Wiek und Travemündung ins Meer hineinragt. Dort ist auch die Passat vertäut, die als Großsegler zu den legendären P-Linern der Hamburger Reederei F. Laeisz gehörte, wie die in den vergangenen Jahren renovierte Peking, die als Wahrzeichen das Schmuckstück des neuen Hamburger Hafenmuseums wird, oder die Pamir, die im Sturm auf dem Atlantik kenterte und unterging. Von 86 Mann Besatzung überlebten nur sechs.  Eines der beschädigten Rettungsboote ist in Lübeck ausgestellt, in St. Jakobi, der Seefahrerkirche, deren nördliche Turmkapelle als „Pamir-Kapelle“ zur Nationalen Gedenkstätte für die zivile Seefahrt wurde.

So taucht Ungerer, der als Feuilletonist bei der FAZ arbeitete und seit 2003 in Berlin lebt und als Autor, Lektor und Moderator arbeitet, tief in die Geschichte seiner Heimatstadt ein. Er erzählt von Seeräubern, dem Reichtum der Hanse, wie die Lübecker die Dänen übertölpelten, denen damals formell die angrenzenden Herzogtümer Sachsen-Lauenburg, Holstein und Schleswig gehörten und von der Franzosenzeit, als Napoleons Truppen Lübeck besetzten. Er weiß, wo die die geschmolzenen Glocken der Marienkirche zu finden sind, die bei der Bombennacht 1942 in die Tiefe stürzten, als die Kirchtürme in Flammen standen, und erzählt von der kleinen Maus, die jedes Lübecker Grundschulkind bei Ausflügen in der Marienkirche gesucht hat. So durchstreift der Leser die schönen Altstadtgassen der Königin der Hanse, lernt die Breite Straße mit ihren Sehenswürdigkeiten wie Rathaus oder dem Café Niederegger kennen, erfährt einiges über den Stadtdichter Emmanuel Geibel, der auf dem Burgtorfriedhof begraben liegt, und bekommt Lübecks kleinste Kneipe vorgestellt. Zwar versteht Ungerer, dass Lübeck als ewig Schöne und Prächtige aus dem Mittelalter viele Touristen anzieht, aber spart angesichts dessen auch nicht mit Kritik, wenn er kenntnisreich erzählt, was das andere Lübeck so attraktiv für ihn macht.  So bleibt auch für viele Lübecker noch einiges an Geschichten und Geschichte zu entdecken.

Mein Lübeck

Klaus Ungerer

Mare Verlag

Gebunden, mit Lesebändchen, 144 Seiten, 20 Euro

ISBN: ‎ 978-3866487055

Weitere Informationen unter https://www.mare.de/buecher/mein-lubeck-705

Von Ingo

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert